Das Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius
Über die Frage, wer den Atlas erfunden hat, lässt sich streiten. Es kommt nämlich darauf an, was man unter einem Atlas versteht. Bücher, in denen es hauptsächlich um Karten ging und weniger um Texte, kamen Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien auf. Allerdings war jeder dieser sogenannten Lafreri-Atlanten ein Unikat, denn ein Buchhändler stellte darin Karten verschiedener Verleger je nach Wunsch der Kunden zusammen und band sie in einem Buch.
Das erste Buch, in dem alle Karten systematisch von einem Verleger zusammengestellt und dann in Serie gedruckt und gebunden wurden, brachte im Jahr 1570 der Antwerpener Kartograph Abraham Ortelius heraus. Er nannte es Theatrum Orbis Terrarum, in etwa: „Zurschaustellung des Erdenkreises“. Der uns heute geläufige Name Atlas für ein Kartenbuch stammt erst von Gerhard Mercator, dessen Werk 1595, ein Jahr nach seinem Tod, erschien. Ortelius und Mercator waren zeitlebens Konkurrenten auf dem Karten- und Globenmarkt. Trotzdem führten sie eine freundschaftliche Beziehung unter Fachkollegen und schrieben sich viele Briefe. Für Mercator war es wichtig, immer möglichst aktuelle und genaue Karten und Reisebeschreibungen zu bekommen, um die Informationen in seine eigenen Karten einfließen zu lassen. Ortelius konnte ihm dabei oft den richtigen Ansprechpartner vermitteln, denn er verfügte über ein gutes Netzwerk von Experten.
Im Theatrum sind die Karten vom kleinsten Maßstab zum größten hin angeordnet, d.h. der Kartenteil beginnt mit einer Weltkarte, darauf folgen die Karten der Kontinente Amerika (Nord und Süd zusammen), Asien, Afrika und Europa. Länderkarten gibt es von allen europäischen Ländern sowie Indien, Persien, dem Osmanischen Reich und Palästina. Große Gebiete ohne näher bekannte staatliche Strukturen wie Nord- und Zentralasien (Tartaria) und Nordwestafrika (Barbaria und Biledulgerid) sind als Regionskarten wiedergegeben. Vom Osmanischen Reich gibt es drei Detailkarten zu Kleinasien (Natolia), dem Nildelta (Aegypten) und Tunesien (Carthago). Diese Präzision wird sonst nur den großen Ländern Europas, nämlich Deutschland, Frankreich, Italien und Ortelius Heimat, den Niederlanden, zuteil.
Die einzelnen Länder sind bei Ortelius nicht als scharfe politische Grenzen zu verstehen, sondern mehr als Sprach- und Kulturräume. Zum Beispiel war Italien nicht politisch geeint und die Schweiz und Griechenland waren Teile größerer Reiche. Dennoch erhielten sie eigene Länderkarten. Deutschland erhielt als Germania ebenfalls eine Länderkarte, obwohl es keinen deutschen Nationalstaat gab. Die deutschen Fürstentümer waren zwar unter einem römisch-deutschen König vereint, aber dieser herrschte zugleich auch immer über anderssprachige Länder.
Eine Besonderheit weist die Karte des amerikanischen Doppelkontinents auf. Die europäische Kolonisation Nordamerikas fand im 16. Jahrhundert noch hauptsächlich an den Küsten und auf den karibischen Inseln statt. Von den großen Weiten im Inneren des Kontinents erfuhren Europäer erst im 19. Jahrhundert. Während Mercator sein fehlendes Wissen über diese Region auf der Weltkarte von 1569 geschickt kaschierte, in dem er Texte über die leeren Flächen legte, schrieb Ortelius hier offen: Ulterius Septentrionem versus he regiones incognite adhuc sunt, in etwa: „Die Regionen im Norden sind bisher noch unbekannt.“