Der Atlas

Gerhard Mercator starb im Jahr 1594 und hat die Veröffentlichung seines großen Kartensatzes, des Atlas, nicht mehr miterlebt. Er wurde erst ein Jahr später von seinem Sohn Rumold herausgebracht, bestand aber zum größten Teil aus Karten des Vaters. Außerdem ist dem Kartenteil ein Textteil vorangestellt, der die kosmographischen Meditationen des Seniors enthält, damit waren seine Gedanken über die Schöpfung der Welt gemeint. Mercators Vision, eine gesamte Kosmographie in einem Werk zu publizieren ist nicht in Erfüllung gegangen. Dazu hätten noch seine Chronologia, seine Edition ptolemäischer Karten, eine ausführlichere Beschreibung der abgebildeten Länder und ein nie fertig gestelltes Werk über die Bewegung der Himmelskörper gehört. Immerhin hat der Atlas von 1595 nach und nach das Konkurrenzprodukt Theatrum Orbis Terrarum, den von Abraham Ortelius erstellten eigentlichen ersten Atlas vom Markt verdrängt und so dafür gesorgt, dass wir ein Kartenbuch heute Atlas nennen und nicht Theatrum.

Mit dem Namen Atlas bezog sich Mercator auf eine griechische Sagengestalt, König Atlas von Mauretanien. Dieser ist der Sage nach der Sohn des gleichnamigen Titanen. Mercator fühlte sich diesem König verbunden, da er ein Gelehrter der Astronomie gewesen sein soll, der als erster die Theorie von den himmlischen Sphären aufgestellt hatte, der zufolge sich die Sterne auf konzentrischen Kugelschalen um die Erde bewegen.

Eine Innovation des Atlas gegenüber dem 25 Jahre älteren Theatrum war übrigens, dass hier alle Karten das gleiche Gradnetz verwendeten und auch in Details einheitlicher waren als dort. Das lag vor allem daran, dass Mercator seine Karten allesamt selbst angefertigt hatte, wohingegen Ortelius Karten anderer zusammenstellte. Da es noch keine einheitlichen Längenmaße in Europa gab, ist der Maßstab am Rand der Karten im Atlas jeweils in den landestypischen Meilen angegeben.

Karten einzelner europäischer Länder und ihrer Teilbereiche veröffentlichte Gerhard Mercator schon 1585 und 1589. Der ersten Gesamtausgabe des Atlas von 1595 fügte Rumold Mercator weitere Karten seines Vaters hinzu, die Länder und Landschaften in Europa zeigen, sowie Karten der Kontinente Europa, Afrika, Asien und Amerika und eine völlig fiktive Karte des noch nicht erkundeten Nordpolargebiets. Obwohl der Atlas alle anderen Länder in West- und Mitteleuropa sehr detailliert zeigt, fehlen Spanien und Portugal völlig. Diesen Mangel behob Jodocus Hondius in der Ausgabe von 1606. Allen anderen Karten voran steht eine Weltkarte von Gerhards Enkel Michael Mercator. Die Karten im Atlas sind übrigens nicht in Mercator-Projektion, wie die Weltkarte ad usum navigantium, sondern in einer abstandsgetreuen Projektion, da diese für einen Atlas viel nützlicher ist.

Mercator lieferte seinen Kunden nur die Stapel der Karten. Um das Ganze zu einem Buch binden zu lassen, mussten die Kunden einen Buchbinder beauftragen. Daher sind die Karten bei den heute erhaltenen Exemplaren nicht immer in der gleichen Reihenfolge. Außerdem konnten die Kunden sich gegen Aufpreis die schwarz-weiß gedruckten Karten von einem Buchmaler von Hand ausmalen lassen. Da Mercator in vielen seiner Karten keine politischen Grenzen einzeichnete, fehlte den Buchmalern hier die Vorlage. Die Frage, wo die Grenzen von Teutschland bzw. Germania genau liegen sollen, war im 16. Jahrhundert gar nicht so leicht zu beantworten. Unklar war zum Beispiel, ob die nach Unabhängigkeit strebenden Niederlande dazu gehören oder nicht. Möglicherweise haben die Kunden den Buchmalern Anweisungen gegeben, welche Grenzen sie persönlich für die richtigen oder besten hielten. Jedenfalls sind heute unterschiedliche Versionen erhalten, deren Verschiedenheit sich nicht mit tatsächlichen Grenzverschiebungen im Laufe der Jahre erklären lassen.

Unkolorierte Version von 1609
Unkolorierte Version von 1609
Kolorierte Version von 1595
Kolorierte Version von 1595
Anders kolorierte Version von 1595
Anders kolorierte Version von 1595
Kolorierte Version von 1619
Kolorierte Version von 1619

Neben dem eigentlichen Inhalt, den Meditationen und den Karten mit erläuterndem Text, enthält der Atlas viel ausschmückendes Beiwerk. So hat der Duisburger Bürgermeister Walter Ghim zum Beispiel eine einseitige Biografie Mercators beigesteuert. Wie der Corputius-Plan enthält auch der Atlas mehrere Widmungen, unter anderem an die britische Königin Elisabeth I. Sie hatte Entdeckungsfahrten nach Nordamerika unterstützt, was den Kartografen sehr genützt hat. Sie war allerdings auch eine entschlossene Verfechterin des Protestantismus, weshalb die Inquisition den Atlas auf den Index verbotener Bücher setzte.

Nachdem auch Rumold Mercator 1599 gestorben war und sich die erste Auflage des Atlas nicht gut verkaufte, brachten die Söhne von Gerhards ältestem Sohn Arnold, Michael und Gerhard II. 1602 eine zweite Auflage ohne große Änderungen heraus. Zwei Jahre später verkauften Mercators Erben die Bibliothek der Familienwerkstatt samt den Kupferplatten zum Druck der Karten. Spätestens im Jahr 1609 befand sich der Bestand dann im Besitz des Amsterdamer Verlegers Jodocus Hondius. Dieser brachte ab 1606 aktualisierte Versionen des Atlas in Latein und erstmals auch in den Volkssprachen Französisch, Italienisch, Englisch, Niederländisch und Deutsch. Der erste Mercator-Hondius-Atlas von 1606 verfügte über 37 zusätzliche Karten, zum Teil von Hondius selbst gestochen, zum Teil von anderen Kartographen. Dazu zählten auch genauere Karten von Gebieten in Afrika und Amerika. Die früheren Auflagen beinhalteten außer den Gesamtansichten noch keine genaueren Darstellungen dieser Kontinente.

Ab 1630 erhielt Hondius Konkurrenz durch den ebenfalls in Amsterdam ansässigen Verleger Willem Blaeu, der seinen eigenen Mercator-Blaeu-Atlas herausbrachte. Die Werkstätten Hondius und Blaeu warfen sich jahrelang vor, die Karten beim jeweils anderen abgekupfert zu haben. Die originalen Druckplatten aus dem Hause Mercator verwendeten ab 1640 beide nicht mehr, da sie zu stark abgenutzt waren.

Aufgrund der jährlichen Entdeckungsfahrten gelangten die Kartographen schnell zu neuen Erkenntnissen über bisher unbekannte Gebiete. Somit waren die Karten, besonders von Amerika, Ostasien und dem Nordpolargebiet auch ebenso schnell veraltet. Mercator hatte alle Gebiete, die zu seiner Zeit noch nicht erkundet waren (und selbst manche erkundeten Gebiete) nur auf der Basis von Überlegungen gezeichnet. Die Region des Nordpols hatte Mercator zum Beispiel noch rein theoretisch entworfen. Hondius korrigierte Mercators fiktiven Nordpolarbereich in seinem ersten Mercator-Hondius-Atlas von 1606 noch behutsam, indem er das nie gefundene Randgebirge des europäischen Ringviertels durch eine Wasserfläche ersetzte. Im Mercator-Blaeu-Atlas von 1645 ist Mercators Karte dann vollständig durch eine neue Karte ersetzt, die sich nur auf die bereits erkundeten Küstenstreifen beschränkt.

Die Entscheidung, nur handfeste Daten in die Karten einfließen zu lassen, war wegweisend und machte endgültig Schluss mit der symbolischen Kartographie des Mittelalters. Bis alle weißen Flecken gefüllt waren, dauerte es aber noch bis weit ins 19., in Gebirgsregionen bis ins 20. Jahrhundert. Im Laufe der Jahre wurden die Mercator-Atlanten beider Verleger immer umfangreicher, da sie das ursprüngliche Werk mit weiteren Detailkarten ergänzten. Der Mercator-Blaeu-Atlas von 1645 wurde daher schon auf drei Bände aufgeteilt, von denen jeder einzelne trotzdem noch mehrere Kilogramm wiegt.

Alternativ zum Atlas konnten Kunden ab 1607 bei Hondius, später auch bei Blaeu den Atlas minor erwerben: eine etwa halb so große Version, die man besser auf Reisen mitnehmen konnte. Eine geringe Größe machte den Atlas minor auch erschwinglicher für die Kunden. Dafür bot er nicht die gleiche Präzision wie die große Version. Auch der Atlas minor erschien in verschiedenen Sprachen. Die heute erhaltenen Exemplare sind ebenfalls unterschiedlich koloriert.

 

Autor: Dr. Dennis Beckmann

 

>> Hier finden Sie das gesamte Werk

Karte des Nordpolargebiets im ersten Atlas von 1595
Karte des Nordpolargebiets im ersten Atlas von 1595
Nordpolkarte im ersten Mercator-Hondius-Atlas von 1606
Nordpolkarte im ersten Mercator-Hondius-Atlas von 1606
Nordpolkarte im Mercator-Blaeu-Atlas von 1645
Nordpolkarte im Mercator-Blaeu-Atlas von 1645