Die kosmographischen Meditationen

Wir bezeichnen Gerhard Mercator heute als Kartographen oder Geographen, er selbst verstand sich aber als Kosmograph. Für ihn bedeutete das, dass er nicht nur die Erde auf geographische Weise kartieren, sondern sie auch als göttliche Schöpfung in ihrer Gesamtheit (gr. Kosmos, das All) begreifen und beschreiben wollte. Denn dass die Erde und die Himmelskörper von einem allmächtigen, gütigen Gott nach einem genialen Plan entworfen und an sechs Tagen erschaffen wurden, stand für ihn außer Zweifel. Außer seinen Karten hinterließ uns Mercator auch Texte über astronomische und theologische Fragen. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stand das Bestreben, die Aussagen der Bibel mit den Schriften antiker Gelehrter und den Entdeckungen seiner eigenen Zeit in Einklang zu bringen.

Mercators Atlas trägt den Untertitel „cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura“ (dt: kosmographische Gedanken über die Erschaffung der Welt und ihre kartographische Gestalt“. Im Textteil des Atlas, der den Karten voran gestellt ist, geht er die biblische Schöpfungsgeschichte Tag für Tag durch und erklärt mit den Mitteln der antiken Naturphilosophie und den neuen Erkenntnissen seiner Zeit, was seiner Ansicht nach, genau bei der Schöpfung geschehen sein muss und warum.

Titelblatt des Atlas von 1595
Titelblatt des Atlas von 1595
Die biblische Schöpfung und die Vertreibung aus dem Paradies in einem Gemälde von Mercators Zeitgenossen Giovanni di Paolo 1487–1564.
Die biblische Schöpfung und die Vertreibung aus dem Paradies in einem Gemälde von Mercators Zeitgenossen Giovanni di Paolo 1487–1564.

Geht man nur von der biblischen Schöpfungsgeschichte aus, muss man jede Frage nach dem „Warum“ auf die Absicht Gottes zurückführen, da keine anderen Gründe angegeben werden. Die Schriften der antiken Gelehrten enthalten hingegen Naturgesetze, von denen Mercator die folgenden für seine Erklärung der Schöpfung übernimmt: 1. Schwere Stoffe sinken nach unten, leichte Stoffe steigen nach oben; 2. Keine Bewegung in gerader Richtung ist ohne Ende; 3. Das feinere verdunstet aus dem Gröberen; 4. Das Schwere sammelt sich im Mittelpunkt; 5. Die Erde ist eine Kugel; 6. Ihre Teile sind geordnet. Auch wenn diese Regeln nach heutigem Wissensstand falsch oder sehr ungenau sind, gaben sie Mercator eine wichtige Grundlage, die ihm dabei half, seine Vorstellungen von der Schöpfung der Welt zu begründen, statt sie einfach nur zu erzählen.

Mercator akzeptierte aber nicht alle Lehren der Antike. Im Text erklärte er auch, welche er ablehnt und warum. Ferner gab er zu, dass er bestimmte Dinge, wie die Gesetze von Ebbe und Flut oder die Gesetze der Meeresströmungen nicht erklären könne. Er war aber überzeugt, dass künftigen Forschern dies gelingen würde, wenn sie seine kosmographischen Gedanken aufnehmen und weiterführen.

In den heutigen Wissenschaften gilt eine Theorie so lange als wahr, bis eine neue (und geprüfte) Information auftaucht, die ihr widerspricht. Daraufhin muss die Theorie an die neue Informationslage angepasst werden. Mercator hingegen hielt Theorien, auch Karten, dann für besonders verlässlich, wenn sie lange unverändert geblieben sind, sich also über die Jahre bewährt haben. Daher kam es vor, dass er neue Erkenntnisse als fehlerhaft abtat, wenn sie einer bewährten Theorie oder einem bewährten Modell widersprachen.

Außerdem beging Mercator bei seinen kosmographischen Gedanken einen methodischen Fehler, den man in den Wissenschaften als „confirmation bias“ oder „Bestätigungstendenz“ bezeichnet. Dieser Fehler tritt dann auf, wenn man für die Begründung einer Behauptung, die man vertritt, nur Beispiele sucht, die die These stützen und alle Beispiele, die der These widersprechen, außer Acht lässt.

In Kapitel 13 schreibt Mercator zum Beispiel: „Da Gottes Weisheit nichts vergebens und ohne Grund geschaffen hat, was nicht zu irgendeiner Lebensnotwendigkeit nützlich wäre, gibt es unzweifelhaft keine Krankheit, keine Unzulänglichkeit der Natur, für die er nicht im Voraus ein Heilmittel besorgt hätte.“ Er nimmt sogar an, dass Gott zu jedem Leiden das passende Heilkraut absichtlich in der Nähe der Leidenden wachsen lasse. Daraufhin führt er eine Reihe von Heilkräutern auf, die Menschen und sogar Tiere in ihrer Umgebung finden und zu sich nehmen, um bestimmte Leiden zu lindern. Dass es zu seiner Zeit viele unheilbare Krankheiten und Leiden gab und Medikamente aufwendig hergestellt und über weite Strecken transportiert wurden, verschweigt er jedoch.

Der wohl grundlegendste Unterschied zwischen Mercators Weltbild und unserem heutigen Weltbild ist der Faktor der Zeit. Mercator ging, wie alle seine Zeitgenossen, davon aus, dass die Welt sich seit ihrer Schöpfung nicht mehr verändert habe, bzw. dass sie „fertig“ sei. Erst spätere Entdeckungen haben gezeigt, dass da wo heute Wüsten oder Berge sind, früher einmal Meere gewesen sein mussten. So kann man z.B. Fossilien von Meerestieren im Gebirge finden. Dass es eine ebensolche sehr langsame Veränderung auch unter den Lebewesen gibt, nämlich die Evolution, erkannten Wissenschaftler noch später.

Büsten der antiken Philosophen Aristoteles und Platon. Foto: Marie Lan-Nguyen_CC-BY 2.0
Büsten der antiken Philosophen Aristoteles und Platon. Foto: Marie Lan-Nguyen_CC-BY 2.0
Fossilien von Ammoniten
Fossilien von Ammoniten Foto: Wolfgang Sauber
Modell eines lebenden Ammoniten Foto: Klaus Rassinger CC BY-SA 3.0/4.0
Modell eines lebenden Ammoniten Foto: Klaus Rassinger CC BY-SA 3.0/4.0

Erst die Grundannahme, dass die Erde und ihre Bewohner sich stetig verändern und nie „fertig“ werden, befreit einen Kosmographen von der Pflicht, jedes Naturphänomen als sinnvollen und nützlichen Teil einer abgeschlossenen, harmonischen und genial ausgedachten Gesamtschöpfung erklären zu müssen.

 

Autor: Dr. Dennis Beckmann