Das Ende der Welt auf dem Schillerplatz?
Aufregung im Wasserviertel Anno 1926!
von Harald Küst
„Von Anwohnern des Schillerplatzes wird uns geschrieben: Eine eigenartige „Verschönerung“ erfuhr der Schillerplatz in Duisburg am Tage vor Pfingsten. Man errichtete dort gegenüber der Mainstraße einen mehrere Meter hohen und etwa 20 Meter langen Bretterzaun, über dessen Zweck sich die Anwohner den Kopf zerbrechen. Diese Sehenswürdigkeit bildete das Ziel zahlloser Pfingstausflügler, die den Zaun von allen Seiten betrachteten und kopfschüttelnd weiter zogen. Man hörte allerlei Gerüchte über dieses imposante Bauwerk, man sprach von Barrikaden gegen etwaige Putschabsichten, von der Errichtung eines neuen Licht- und Luftbades, von dem Bau eines Kölner Hänneschen Theater usw. Ein besonders „Eingeweihter“ behauptete, man habe hier das Ende der Welt entdeckt, das It. Vorschrift mit Brettern vernagelt werden müsse.“
Diese Nachricht konnten die Leserinnen und Leser der Rhein- und Ruhrzeitung am 26. Mai 1926 lesen. Was war da passiert? Die Vermutungen schossen ins Kraut, der Blutdruck in die Höhe. Einen Tag später wusste die Zeitung von Unmut über ein vermeintliches Licht- und Luftbad – sprich: FKK! – und Protest gegen eine etwaige Bedürfnisanstalt – sprich: Toilette! – zu berichten. Schließlich sei solcherlei „eine Beleidigung des Schillerschen Genius“.
Aber die Lokalreporter der Rhein- und Ruhrzeitung kümmerten sich um des Rätsels Lösung. Und die war – wie so oft – etwas prosaischer als die angestellten Überlegungen: Der Bauzaun schützte die Arbeiten an einem Trafohäuschen, das für die Umstellung des Gleichstromnetzes auf Drehstrom errichtet wurde. Drehstrom ermöglicht eine effizientere und stabilere Energieübertragung, weil er mit kleineren Leitungsquerschnitten auskommt und effizienter betrieben werden kann. Ein Stück Moderne also, das ausgerechnet am Schillerplatz im Wasserviertel für Aufsehen sorgte. Transformatorenhäuschen spielten bei der Elektrifizierung einer wachsenden Großstadt wie Duisburg eine entscheidende Rolle. Diese Bauwerke dienten nicht nur der technischen Stromverteilung, sondern waren oft auch architektonisch vielfältig gestaltet. „Die Station wird eine gefällige äußere Form erhalten, die in jeder Hinsicht eine Verschönerung des Schillerplatzes darstellen wird“, so die Stadt Duisburg. Die Zeitung kommentierte die Gestaltung etwas ironischer: „Wir können noch hinzufügen, daß dieses Transformatorenhäuschen neckischerweise mit einem geschweiften, weitausladenden Dach nach Art eines chinesischen Tempelchens versehen wird.“ Gleichzeitig sollte das Stromhäuschen als Straßenbahnhaltestelle dienen. Allerdings, so meinte die Zeitung, müssten Fremde davon ausgehen, von hier aus nach Meiderich fahren zu können, was aber nicht der Fall sei: „So werden die schadenfrohen Anwohner des Schillerplatzes noch manchen ortsunkundigen, nach Meiderich strebenden Straßenbahnbeförderungsaspiranten in hoffnungsloser buddhistischer Selbstversenkung im chinesischen Tempelchen von einem Bein auf das andere treten sehen.“

Eine Luftaufnahme zeigt das im Bau befindliche Stromhäuschen einschließlich des rätselhaften Zauns.
Stadtarchiv Duisburg, Best. 6 1 (Bildsammlung), Luftaufnahmen, Nr. 171
Jenseits der amüsanten Berichterstattung stellen sich für Kunsthistoriker spannende Fragen: Dass chinesische Architekturelemente in die Gestaltung eines Duisburger Trafohäuschens aus den 20er Jahren einfließen, ist absolut ungewöhnlich. Die Bauform steht in keinem Zusammenhang mit der Funktion des Gebäudes, nämlich der Aufnahme elektrotechnischer Anlagen und der Verteilung von Stromleitungen. Andere ästhetische Stilformen von Trafohäusern sind dagegen weit verbreitet und stehen beispielhaft unter Denkmalschutz. Sollten noch die technischen Zeichnungen oder gar Fotos des Trafohäuschen zu finden sein? Mit Augmented Reality könnte das Schillerplatz-Trafohäuschen durch Einblendung der Rekonstruktion in die reale Welt eingeblendet werden. Für die Wissenschaft eröffnen sich ganz neue Spielfelder.
Zum Weiterlesen
Renate Kastorff-Viehmann: Die Architektur von Bauten für die Elektrizitätsversorgung, in: Theo Horstmann, Theo (Hrsg.): Elektrifizierung in Westfalen: Fotodokumente aus dem Archiv der VEW. Umspannungswerk Recklinghausen. Hagen 1990. S. 49–58.
Rhein- und Ruhrzeitung vom 26. Mai 1926
Duisburger General-Anzeiger vom 27. Mai 1926