Der lange Schatten antiker Objekte – Was wissen wir über unsere Exponate?
Teil 4/6: Herkunft: Irak
Mesopotamien oder das Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris liegt größtenteils im heutigen Irak. Die Region ist Teil des sogenannten „fruchtbaren Halbmonds“, eine der Wiegen der sesshaften landwirtschaftlichen Lebensweise und Innovationszentrum früher Hochkulturen. Im Süden Mesopotamiens, im Marschland des Euphrats, lag die Stadt Eridu. Sie war vom 5. bis zum 2. Jahrtausend v. Chr. bewohnt und gehört zusammen mit dem noch älteren, nahegelegenen Uruk zu den ältesten Städten der Welt. Den Kern der Siedlung stellte der Tempel der Süßwassergottheit Enki dar. Diese stufigen Tempel der frühen mesopotamischen Städte nennt man Zikkurat. Heute ist von der Stadt nicht viel mehr als ein künstlicher Hügel erhalten, den die Einheimischen Araber Tell Abu Shahrain nennen.
Die erste archäologische Ausgrabung unternahm der britische Diplomat John George Taylor im Jahr 1855. Zu dieser Zeit war Mesopotamien Teil des Osmanischen Reichs. Da das osmanische Antikenschutzgesetz erst im Jahr 1869 erlassen wurde, musste Taylor keine Genehmigung beim Sultan einholen. Nach Erlass des Gesetzes ließ die osmanische Regierung ausländische Grabungen nur noch auf Antrag zu. Die Regierung maß den Stätten vorislamischer Kultur allerdings keinen hohen Wert bei. Der Zweck des Gesetzes bestand weniger darin, diese Stätten zu schützen, als darin, an etwaigen Schatzhebungen beteiligt zu werden und ausländische Spionage unter archäologischem Deckmantel zu unterbinden. Die nächsten bedeutenden Ausgrabungen in Eridu fanden erst in den Jahren 1918 und 1919 statt, nachdem das Osmanische Reich infolge des Ersten Weltkriegs zerfallen war. Die Region Mesopotamien wurde zum Völkerbundsmandat unter britischer Militärverwaltung, bis im Jahr 1921 das haschemitische Königreich Irak ausgerufen wurde. In dieser Zwischenphase führten die britischen Archäologen Campbell Thompson und Harry Reginald Hall unter dem Schutz des Militärs und im Auftrag des British Museum Ausgrabungen in ganz Mesopotamien durch. Das von den Briten im Irak installierte haschemitische Königshaus verlor 1941 in einem Staatsstreich seine Macht. Die Folgen waren ein Einmarsch der britischen Armee und eine erneute militärische Besatzung bis 1947. Während dieser zweiten Besatzungsphase begannen die bisher umfangreichsten Ausgrabungen in Eridu durch den Iraker Fuad Safar und den Briten Seton Lloyd. Lloyd war seit 1939 als archäologischer Berater der irakischen Altertumsbehörde im Land, bildete einheimische Archäologen aus und war beim Aufbau irakischer Museen beteiligt.
Im Bestand der Sammlung Köhler Osbahr befindet sich ein Tonziegel, der auf ungeklärtem Weg nach Deutschland kam. Der Sammler und Stifter Dr. Herbert Köhler kaufte den Ziegel im Jahr 1983 beim Kunsthaus Kress in München für 650 DM an. Dem Ziegel lag ein Echtheitszertifikat eines deutschen Gutachters von 1979 bei. Ausnahmsweise lassen sich hier viele Informationen aus dem Objekt selbst ziehen. Laut Gutachten wurde dem Ziegel vor dem Brennen mithilfe eines Rollsiegels ein Text in Keilschrift eingepresst, der übersetzt Folgendes bedeutet:
“Der (König) Amar[-Suena], den Enlil in Nippur mit Namen genannt hat, der Versorger des Enlil-Tempels, der starke König, der König von Ur, der König der vier Weltgegenden, hat für Enki, seinen geliebten König, sein geliebtes abzu (Wasserheiligtum) gebaut.”
Der Text ist so zu verstehen, dass der Bauherr des Wasserheiligtums, König Amar-Suena (r. 2046–2038 v. Chr.), einige der verwendeten Ziegel derart beschriften ließ, um die Nachwelt darüber zu informieren, dass er der Bauherr war – so als habe er ein Kunstwerk signiert. Das hier erwähnte abzu oder Wasserheiligtum ist die oben erwähnte Zikkurat der Süßwassergottheit Enki in Eridu. Dem Gutachten zufolge gilt es außerdem als sicher, dass der Ziegel in der Antike gebrannt wurde. In Eridu wurden auch andere dieser Ziegel gefunden und 1947 infolge der Lloyd-Safar-Grabungen in einer Fachzeitschrift beschrieben. Wann der Ziegel von der Zikkurat entfernt und nach Deutschland gebracht wurde, bleibt unklar. Fest steht, dass er mindestens seit 1979 in Deutschland ist. Das osmanische Antikenschutzgesetz von 1869 hat ausländischen Archäologen einen bürokratischen Mehraufwand entgegengestellt, konnte aber Einheimische nicht am Plündern antiker Stätten hindern.
Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren Raubgrabungen im Irak ein Massenphänomen. Während der Zeit der britischen Militärverwaltung herrschte ein Exportverbot für Altertümer, das nun auch mit einer Überwachung der Stätten einherging. Davon waren die Grabungen im Auftrag des British Museum selbstverständlich ausgenommen. Ferner beschlagnahmte die britische Militärverwaltung Objekte, die deutsche Archäologen während des Krieges im Irak ausgegraben hatten und brachten diese nach England. Im haschemitischen Königreich Irak waren bis 1934 europäische Archäologen für die irakische Altertumsbehörde zuständig. Die Bewachung der Stätten entfiel und das Ausfuhrverbot wurde gelockert. Bei professionellen Grabungen wurden die Funde üblicherweise zwischen ausländischen Archäologen und dem neu geschaffenen Irakischen Museum geteilt. Raubgrabungen fanden in großem Umfang statt. Mit der Machtübernahme der Ba’ath-Partei im Jahr 1958 setzte ein Wandel ein. Die neue Staatsdoktrin bediente sich zur Herstellung einer nationalen irakischen Identität nun nicht mehr nur der islamischen Vergangenheit, sondern auch der Zeugnisse vorislamischer Kulturen. Spätestens ab 1968 wurden Raubgrabungen und Schmuggel durch einen Polizei- und Überwachungsstaat bekämpft, wenn auch nicht vollständig unterbunden. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Ziegel in den 1920er- bis 50er-Jahren vom Tempel entnommen wurde und nach 1947 erstmals auf dem Kunstmarkt in Europa angeboten wurde, nachdem die Publikation der Lloyd-Safar-Grabung diese Art von Stücken bekannt gemacht hatte. Die größten Plünderungen im Irak fanden übrigens erst während des Irak-Kriegs im Jahr 2003 statt, als Objekte direkt aus dem Irakischen Museum in Bagdad gestohlen wurden und anschließend den Kunstmarkt überfluteten. Erneute Hochphasen erlebte der Antikenschmuggel aus dem Irak während des Kampfs gegen den Islamischen Staat und während der Corona-Pandemie, als die archäologischen Stätten infolge ausbleibender Touristen nicht mehr bewacht wurden.
Dr. Dennis Beckmann