Seuchen und andere Krisen überleben.
Unser Volontär, Dennis Beckmann, gibt eine kleine Vorschau auf eine kommende Ausstellung.
Als wissenschaftlicher Volontär arbeite ich unter Anderem an einer Foto-Ausstellung, welche die Indianer Nordamerikas im frühen 20. Jahrhundert zeigt. Sie soll diesen Herbst im KSM eröffnet werden.
Das Bild, das wir uns im 21. Jahrhundert von einem „echten Indianer“ machen, wurde maßgeblich vom Fotografen Edward Curtis (1868–1952) mitgeprägt. In drei Jahrzehnten machte er tausende Fotoaufnahmen, die er der Nachwelt in seinem Lebenswerk „The North American Indian“ vermacht hat. Eine Auswahl dieser Bilder wird, kritisch aufgearbeitet und erläutert, in der kommenden Ausstellung zu sehen sein.
Curtis war angetrieben von der Idee, dass die Indianer, wie er sie aus den Büchern seiner Kindheit kannte, als federgeschmückte Krieger, als Bisonjäger und heidnische Medizinmänner, noch zu seinen Lebzeiten verschwunden sein würden. Er bezeichnete die Ureinwohner seines Heimatlandes daher als „vanishing race“. Seine Lebensaufgabe sah der Fotograf darin, möglichst viele Indianer zu porträtieren, bevor sie ausgestorben sein würden und möglichst viel von ihrer Kultur zu dokumentieren, bevor diese von Curtis‘ eigener Kultur, also jener der europäischen Einwanderer, verdrängt sein würde.
In Curtis‘ Zeit von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Lebenswelt der Indianer tatsächlich radikal geändert. Viel traditionelles Wissen ist unwiederbringlich verloren gegangen, sogar ganze Sprachen. Die Indianer sind jedoch weder ausgestorben noch ist ihre Kultur verschwunden. Curtis hat nicht beachtet, dass sich die indianischen Kulturen seit Kolumbus‘ Landung im Jahr 1492 genauso weiterentwickelt hatten wie die europäischen. Die Kultur der reitenden Bisonjäger in der Prärie des 19. Jahrhunderts, die der Fotograf für „echt indianisch“, also unberührt von euro-amerikanischem Einfluss, gehalten hat, war bereits das Ergebnis eines über 300-jährigen Entwicklungsprozesses. Die früheren Waldbewohner zogen westwärts, gaben den Anbau von Gemüse und Mais auf, behielten aber viele ihrer Mythen. Sie übernahmen das Pferd und das Gewehr aus der Kultur der Einwanderer und erfanden so eine neue nomadische Kultur in der Prärie. Dieses Prinzip von „aufgeben, bewahren, aufnehmen und neu erfinden“ gilt auch für die Zeit nach Curtis.
In der Anfangszeit der Eroberung Amerikas bestand die größte Gefahr für die Ureinwohner übrigens nicht in der Kultur der Neuankömmlinge, sondern in den Krankheitserregern, die sie mitbrachten. Gewaltige Epidemien von Masern, Pocken und anderen Krankheiten, die für die Europäer harmlos waren, rafften Millionen von Menschen in der Karibik und an den Küsten Nord- und Südamerikas dahin. Durch Handelsbeziehungen und Fluchtbewegungen gelangten die Erreger bis weit ins Hinterland, bevor europäische Siedler und Entdecker selbst so weit vordrangen.
Curtis‘ Zeitgenossen, die er Jahrhunderte später auf den Reservaten besuchte und fotografierte, waren also bereits die Nachfahren von Menschen, die große Krisen überlebt hatten. Die Enkel und Urenkel von Curtis‘ Foto-Modellen verteidigen heute ihre Rechte in Gerichtssälen, tradieren ihre Mythen und Sprachen in Comics und Videospielen und nutzen Blogs und Online-Zeitschriften, um auf indianische Themen aufmerksam zu machen. In den Bereichen Kunsthandwerk, Musik, Tanz und Mode erfinden sie fortlaufend neue Stile, die alle genauso „echt indianisch“ sind wie die des 19. Jahrhunderts. Das „echt deutsche“ Gericht „Currywurst-Pommes“ könnte es ohne eine Frucht aus Südamerika und ein Gewürz aus Indien auch nicht geben.
Gegenseitige kulturelle Beeinflussung ist eine Begleiterscheinung von Globalisierung und findet seit Jahrhunderten statt. Das gleiche gilt für die Verbreitung von Krankheitserregern, wie man auch an der aktuellen Corona-Pandemie sehen kann. Überall auf der Welt passen sich Menschen an die neuen Bedingungen an. Manches wird verloren gehen, anderes bewahrt werden. Der medizinische Mundschutz, der in Ostasien schon lange zur Ansteckungsvermeidung im öffentlichen Raum getragen wird, hat sich nun weltweit etabliert. In den nächsten Monaten dürfen wir noch mit vielen neuen Erfindungen und Erscheinungen rechnen.