Aus dem Radio tönt am 28. April die Stimme der Nachrichtenmoderatorin: „Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ist zu Gast in Israel. Anlässlich des Holocaustgedenktages besucht Bas die Gedenkstätte Yad Vashem und entzündete am Abend während einer Gedenkfeier im Parlament eine Kerze für die ermordete Duisburger Jüdin Irma Nathan.“ Als Mitarbeiterin des Zentrums für Erinnerungskultur der Stadt Duisburg horche ich an dieser Stelle auf. Duisburger Jüdin? Wer war Irma Nathan? Was wissen wir über sie?
Nach einem kurzen Blick ins Internet, das nur wenige Informationen zu Frau Nathan bereithält, folgt der nächste Schritt: das Standardwerk „Geschichte der Duisburger Juden“ von Günter von Roden wird zu Irma Nathan befragt. Diese zweibändige Ausgabe[1] enthält Kurzbiogramme von annähernd allen Duisburger Jüdinnen und Juden. Hier findet sich folgendes zu der gesuchten Frau: geboren am 10.01.1902 in Krefeld als Irma Eichwald, lebte sie seit 1921 in Duisburg. Sie war verheiratet mit dem Kaufmann Ferdinand Nathan, mit dem sie 1927 die Tochter Ruth und 1929 einen Sohn mit dem Namen Alfred bekam. Die Familie lebte von 1927 bis 1932 in der Duisburger Lotharstraße 14b und zog dann in die Lerchenstraße 25. Irma engagierte sich als Vorstandsmitglied der Duisburger Ortsgruppe des Jüdischen Frauenbundes. Wie für alle im Deutschen Reich lebenden Jüdinnen und Juden war die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch für Irma und ihre Familie ein grausames Ereignis. Die Wohnung der Nathans wurde verwüstet und die Nationalsozialisten inhaftierten Ferdinand Nathan für vier Wochen im Konzentrationslager Dachau. Nach seiner Rückkehr zog die Familie nach Krefeld, in Irmas Heimatstadt. Dennoch hielten die Nathans weiterhin Kontakt zu Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Duisburg und waren beispielsweise mit Familie Kaufmann freundschaftlich verbunden. 1939 wurde Irma in Krefeld Leiterin des Wohlfahrtsamtes der jüdischen Gemeinde, nachdem die Eltern ihre Kinder Ruth und Alfred am 25. Januar 1939 mit einem Kindertransport ins niederländische Nimwegen schickten und damit vermeintlich in Sicherheit brachten.
Diese Sammeltransporte wurden von jüdischen Gemeinden und Wohlfahrtsorganisationen nach dem Novemberpogrom 1938 organisiert, um möglichst schnell viele jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich, aber auch aus Österreich und der damaligen Tschechoslowakei, in Sicherheit zu bringen. Die Einreisebestimmungen der meisten Länder waren streng, die Aufnahme daher nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich und die Wartelisten lang. Einige Länder erklärten sich jedoch bereit zumindest Kinder aufzunehmen. Die meisten Transporte gingen nach Großbritannien, weitere Fahrten wurden nach Frankreich, Belgien, in die Niederlande, Schweiz und nach Schweden organisiert. Der erste Transport erfolgte bereits am 1. Dezember 1938. Insgesamt gelangten 20.000 jüdische Kinder außer Landes und damit zunächst in Sicherheit. Die Nationalsozialisten begrüßten die Ausreise, verboten aber die Mitnahme von Kapital und Wertgegenständen. So waren die einzigen Habseligkeiten ein Koffer und 10 Reichsmark, die die Kinder mit in eine ungewisse Zukunft ohne Eltern nahmen. In der Hoffnung Mutter und Vater möglichst bald wiederzusehen, kamen sie bei Gastfamilien oder in Kinderheimen unter. Wie schwer es Irma und Ferdinand gefallen sein muss, ihre Kinder auf ungewisse Zeit wegzuschicken, ist kaum vorstellbar. Ob Irma und Ferdinand selbst versuchten das Land zu verlassen, ist nicht beschrieben.
Ruth und Alfred lebten in den Niederlanden, bis sie am 11. Februar 1943 nach dem Einmarsch der Deutschen in die Niederlande ins Durchgangslager Westerbork deportiert wurden. Wo und unter welchen Umständen sie die vier Jahre seit der Ausreise aus dem Deutschen Reich verbrachten, ist uns nicht bekannt. Wir wissen nur, dass sie wenige Wochen später in das
Vernichtungslager Sobibor (im besetzten Polen) kamen und dort am 5. März 1943 von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Die Eltern Irma und Ferdinand lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Sie waren nach drei weiteren Jahren in Krefeld im April 1942 ins sogenannte Durchgangsghetto Izbica (im besetzten Polen) gebracht worden. Das Leben der meisten Ghettoinsassen endete in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor. Wo und an welchem Tag Irma und Ferdinand starben ist unbekannt. Auch über ihre letzten Jahre in Krefeld ließ sich nichts herausfinden. Viele Fragen bleiben offen.
Warum gedenkt Bärbel Bas nun ausgerechnet dieser Frau? Irma Nathan lebte mit ihrer Familie in der Duisburger Lerchenstraße, nur unweit von Bärbel Bas‘ Wohnhaus entfernt. Als Anwohnerin nahm Frau Bas 2006 an der Verlegung der Stolpersteine teil, die vor der Hausnummer 25 an die Familie erinnern sollen. Diese persönliche Verbindung, das tägliche Vorbeigehen an ebenjenem Ort und das ergreifende Schicksal der Familie bewegten die Bundestagspräsidentin dazu, eine Kerze für Irma Nathan zu entzünden. Wir erinnern und gedenken ebenfalls.
Christa-Maria Frins, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Erinnerungskultur
[1] Von Roden, Günter: Geschichte der Duisburger Juden, in: Duisburger Forschungen Bd. 34, 1986.