Ein Gastbeitrag von Dr. Hans Christian Adam
Die Aktuelle Ausstellung „The North American Indian – Faszination und Inszenierung in den Fotografien von Edward Curtis“, die das Kultur- und Stadthistorische Museum seit Ende September zeigt, konnte leider nicht wie geplant im Rahmen einer hochkarätig besetzten Mercator-Matinée eröffnet werden. Wir hätten uns sehr gefreut, Dr. Hans Christian Adam, Spezialist für historisches Bildmaterial und Autor zahlreicher Artikel und Bücher, u.a. zur Reise- und Kriegsfotografie, zu einem Vortrag über das Werk von Edward Curtis bei uns zu begrüßen. Herr Adam hat uns jedoch freundlicherweise einen Gastbeitrag für unseren Museums-Blog zur Verfügung gestellt, den wir Ihnen hier gern präsentieren:
Edward Curtis und die Nordamerikanischen Indianer
Curtis stammte aus dem Mittleren Westen und kam aus einfachen Verhältnissen. Er wurde zunächst ein recht erfolgreicher Portraitphotograph in Seattle, Washington, wo er Prominente photographierte und Kontakte knüpfte. Er begann sich kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert für die in der Umgebung lebenden Indianer der Nordwestküste zu interessieren und fasste schließlich den unbescheidenen Entschluss, alle Indianerstämme des nordamerikanischen Kontinents aufzusuchen, sie zu photographieren, ihre Sitten und Gebräuche, Sprachen, Märchen, erinnerten Träume und ihre Musik festzuhalten und die Ergebnisse zu publizieren. Tatsächlich gelang es ihm, im Laufe von rund 30 Jahren ein monumentales Druckwerk zusammenzustellen: „The North American Indian“, je 20 Portfoliomappen mit großformatigen Photogravüren (einem hervorragenden Kupfertiefdruck) sowie 20 Textbände. Jedes Paar von Mappe und Textband war einem oder mehreren Indianerstämmen gewidmet. Der Satz mit allen Bänden und Mappen kostete die schwindelerregende Summe von 3000 Dollar – und es sollte rund 30 Jahre dauern, bis die Subskribenten den letzten Band in den Händen hielten. Die Aufnahmen sowohl im Bandwerk als auch in Einzelbildern aus seinem zentralen Studio in Seattle wurden zumeist hochstilisiert in edlen Drucktechniken präsentiert.
Trotz Fürsprache des amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt war die Finanzierung das größte Problem. Der amerikanische Unternehmer John Pierpont Morgan (1837–1913) – sowohl Erzkapitalist als auch Kunstmäzen – stellte Curtis Geld zur Verfügung, allerdings mit diversen Bedingungen, an denen der Autor-Photograph in der Folge schwer zu schlucken hatte. Unter anderem hatte sich Morgan als Gegengabe 25 Sätze des North American Indian gewünscht – und da er 1856-57 in Göttingen offensichtlich zu seinem Nutzen Mathematik studiert hatte, schenkte er seiner Alma Mater einen dieser Buchsätze. Es ist der einzige Satz, der nach Deutschland gelangte; die wenigen anderen in Europa erhaltenen Exemplare sind unvollständig. Die Abteilung für Handschriften und Seltene Drucke der Universitätsbibliothek Göttingen kann sich glücklich schätzen, neben ihrer 42–zeiligen, exquisit illuminierten Gutenberg-Bibel eine inhaltlich so gänzlich verschiedene, kostbare Rarität zu besitzen. Einer der seltenen, sich auf dem freien Markt befindlichen Sätze des „North American Indian“ wurde 2012 von New Yorker Auktionshaus Swann’s für 1.440.000 $ verkauft.
Curtis’ photographische Annäherung ist eine einerseits künstlerische (genauer gesagt spätpiktorialistische) und andererseits eine dokumentarische. Zweifellos hatte Curtis großes Geschick, Zugang zu den Indianern zu bekommen und behandelte sie, nach allem was wir wissen, in der Regel fair. In den Bänden sind vielfach lebendige Alltagsszenen zu sehen; in den Mappenwerken überwiegen die beeindruckenden Gesichter. Mit einer einfachen Beleuchtungstechnik in einem eigens geschneiderten Zelt mit Oberlicht nahm Curtis effektvolle Portraits auf. Er stilisierte die einst als Barbaren Verfolgten sowohl als „edle Wilde“, aber auch als großartige, vom Leben, von Licht und Schatten gezeichnete Individuen. Curtis versuchte bei einer Portraitsitzung auf Attribute der Neuzeit zu verzichten, als wolle er seine Modelle in eine Zeit zurückversetzen, als sie noch Herrscher und heroische Krieger auf eigenem Land waren. Auf einem Bild präsentiert z. B. Little Plume (Piegan Blackfeet) im Tipi nicht ohne Stolz seinen Wecker – der für die spätere Reproduktion wegretuschiert wurde. Trugen Indianer ein Kleidungsstück, das nach Curtis’ Vorstellung nicht zu ihnen passte wie etwa ein Baumwollhemd, wurde es für die Aufnahme mit einer übergeworfenen Decke kaschiert. Besaßen Curtis’ Modelle nur noch unvollständige Trachten, kostümierte er sie mit mitgebrachten Kleidungsstücken, die teilweise zur Tracht anderer Stämme gehörten. Solch manipulierendes Tun stieß bei vielen Wissenschaftlern seiner Zeit auf berechtigte Kritik – bei der aber möglicherweise auch der Neid auf eine gleichzeitig hochästhetische Präsentation mitschwang. Die Textbände, die Curtis mit einem Team von Mitarbeitern zusammenstellte, sind eine großartige ethnographische Quelle. Allerdings werden diese Männer, die ein sehr erhebliches Verdienst am Zustandekommen des riesigen Werkes hatten, ja, für seine Wissenschaftlichkeit sorgten, dort nur eher kursorisch genannt. Und man hat heute den Verdacht, dass selbst von den Photographien nicht alle aus Curtis’ Hand stammen, trotz seiner kantigen Signatur auf Originalabzügen. Vielmehr könnte es sein, dass sein Namenszug den ursprünglichen, stark retuschierten Urhebernachweis verdeckt, als habe er von örtlichen Photographen einige Negative gekauft. Dies gilt sehr wahrscheinlich nur für sehr wenige Negative. Die Lösung dieser Frage bedarf weiterer Forschung. Und doch ist nicht abzustreiten, dass es ohne Curtis’ Durchsetzungsvermögen, Beharrlichkeit, Vorausschau und Führungsqualitäten dieses großartige Werk „The North American Indian“ nicht gegeben hätte.
Hans Christian Adam